Die Entstehung der 360-Grad Fasnet


Fasnacht, das ist in erster Linie ein Spiel der verkehrten Welt. An Fasnacht werden die normalen Verhältnisse auf den Kopf gestellt. In Rottweil wird dieses Austoben vor der Fastenzeit mit Billigung der katholischen Kirche bereits seit über siebenhundert Jahren gepflegt. Die Faszination des Rollenspiels, der Vermummung, verbunden mit den unterschiedlichsten Gefühlen von Lebensfreude und Geborgenheit bis hin zu Wehmut und Ergriffenheit prägt die hiesige Einwohnerschaft und ist nachweislich ein Teil der Stadtgeschichte. Über die Jahrhunderte hinweg tauchen immer wieder schriftliche Belege zur Bedeutung der Fasnet in Rottweil auf. Beispielsweise verfügt im Jahre 1476 der damalige Rottweiler Bürgermeister, Leonard Schappel, dass die Stadtpfeifer zur Fastnacht aufspielen. Und zu Beginn des 16. Jahrhunderts lässt sich den Chroniken der Grafen von Zimmern entnehmen, dass man in Rottweil große und herrliche Fastnachten feiert. Belegt ist zudem die Schenkung von „2 ochsen in die fassnacht uff all trinckstuben“ durch den Abt des Klosters Sankt Georgen im Jahre 1502. Ausschlaggebend für diese Gabe waren wohl die Fastnachtsumtriebe in Rottweil, die ihn stark beeindruckten.

 

Eine besondere Bedeutung für die fastnachtlichen Umtriebe in Rottweil erlangte aber das 19. Jahrhundert. Im Jahre 1802 verlor die Reichstadt Rottweil ihren Status und diente dann als Entschädigungsmasse für den Herzog von Württemberg und so hörte sie als Reichsstadt zu existieren auf. Was nun folgte waren immer wieder Schikanen, die die Fasnet verboten, dann wieder zuließen, dann wieder untersagten. Die reichsstädtische Straßenfastnacht wurde an den Rand gedrängt, war vom Aussterben bedroht, die Narrenzunft schon lange aufgelöst. Vermehrt gab es zudem Bestrebungen des Bildungsbürgertums, die Festivitäten vom Vulgären zu befreien und ihnen sowohl formal als auch inhaltlich ein neues Gepräge zu geben. Geprägt von der Karnevalisierung der Fastnacht am Mittel- und Niederrhein setzte sich in Rottweil nach 1848 eine ähnliche Entwicklung durch. Die Obrigkeit hoffte, dass die Rottweiler ihre alten Bräuche vergessen und sich auf die Idee von Prinz Carneval umstellen ließen. Bälle, Tanzveranstaltungen und karnevalistische Umzüge sollten so den traditionellen Narrenlauf ersetzen. Auf den Bällen vergnügten sich meist nur die Begüterten und neu Hinzugezogenen. Doch gerade die Enkel der alten Reichstädter wünschten sich ihre alte ursprüngliche Fasnet zurück. So beschloss eine stattliche Anzahl Rottweiler Bürger, ihre traditionelle aber müde gewordene Fasnet wieder zu beleben. Am 8. Februar 1888 wurde eine Versammlung im Hotel Armbrust einberufen „Wir wollen es nicht haben die Fasnet zu begraben…“ war in der Rottweiler Tagespresse zu lesen. Eine große Anzahl von Bürgern war im Hotel Armbrust erschienen und gründete an diesem Abend einen Verein zur Wiederbelebung und Erhaltung der traditionelle Fasnet: die Narhalla. Der Name Narrhalla geht auf den Versammlungsort zurück, trafen sich die Gründungsmitglieder doch in der „Narrenhalle“ im Gasthaus Armbrust. Die sogleich in die Vereinskasse eingezahlten 109,50 Mark sollten dazu dienen am Fastnachtsmontag den Narrensprung zu organisieren, was erfolgreich gelang. Im folgenden Jahr veranstaltete die Narrhalla neben dem Narrensprung am Mittag einen größeren, karnevalistischen Umzug.

 

Sämtliche Vereine wurden zur Teilnahme aufgefordert. Wahrscheinlich sollte mit diesem Umzug dem karnevalistischen Einfluss Rechnung getragen werden. Als Thema wählte man die „Afrikanische Expedition zum Sultan von Sansibar“.

 

Ein Jahr später erfreute der Narrensprung die Bürger erneut. Wieder bezahlte die Narrhalla 20 Mark für die Musik. Den Kindern ließ sie für 10 Mark Nüsse, Brezeln und Würste auswerfen. Ferner steuerte die Narrhalla für den karnevalistischen Umzug 50 Mark aus der Vereinskasse bei. Auch 1890 war die Narrhalla sehr aktiv, sie organisierte vier Versammlungen und drei Scherzabende. Die Fastnacht in Rottweil hatte nunmehr also zwei Gesichter. Zum einen die Straßenfasnet, zum anderen die eher karnevalistisch geprägten Scherzabende und Themenumzüge. Stolz betonte deshalb der damalige Oberbürgermeister Glückher auf der Narrhalla- Versammlung, sich ganz für den Namen Rottweil – Narrenstadt einsetzen zu wollen.

 

Der Narrensprung war bereits eine Selbstverständlichkeit bei der Rottweiler Bürgerschaft, doch die Stadtkasse war, wie heuer, leer. Glückher bedauerte das sehr, und so konnte er auch sein Versprechen nicht halten – 1894 mussten die Mitglieder aus Geldmangel auf ihren karnevalistischen Umzug verzichten. Die Narrhallesen entschieden daraufhin, zukünftig auf eigene Kosten einen Umzug abzuhalten. Der traditionelle Narrensprung kam dadurch aber immer mehr ins Hintertreffen und die reichsstädtische Fasnacht trotz eines Beschlusses der Narrhalla auf ihrer Generalversammlung im Jahr 1896, sich wieder stärker um den Narrensprung zu kümmern, fast zum Erliegen. Mit fünf Narren im Jahr 1896 und sieben Narren in den Jahren 1897 und 1898 kann von einer Rottweiler Fastnacht in ihrer eigentlichen Bedeutung nicht mehr gesprochen werden. Aber auch die karnevalistischen Umzüge fanden ab 1900 nicht mehr statt.

 

Vor diesem Hintergrund lud Glasermeister Karl Pfister 1903 die Bürger zur Gründung eines Narrenvereins (heute die Narrenzunft) ein. Die Gründung des Vereins fand am 30. Oktober 1903 statt. Am 20. November 1903 gab es dann eine Sitzung der beiden Vereinigungen – Narrhalla und Narrenzunft - in der man sich die gegenseitige Unterstützung zusicherte. So waren zeitweise bei den Sitzungen der Narrenzunft Vertreter der Narrhalla dabei. In den ersten Jahren organisierten beide Vereine gemeinsam den Narrensprung. 1904 hat dann der Montagsnarrensprung wieder einen „guten Eindruck“ gemacht. Der Sprung am Dienstag aber war nur ein Abglanz des vorherigen Tages, so berichtet das Protokollbuch der Narrhalla.

 

1905 beschließt die Narrhalla, nach dem traditionellen Narrensprung wieder einen karnevalistischen Umzug abzuhalten. Zum hundertsten Todestag von Schiller sollte der Umzug unter dem Motto „Wilhelm Tell“ stehen.

 

Im Jahre 1909 lösten wichtige Entscheidungen bei der Narrhalla viele Unstimmigkeiten aus. Die Narrhalla überließ in Zukunft die Pflege des Straßennarrens, also die Veranstaltung beider Narrensprünge am Montag und am Dienstag, sowie das Stellen der Musik und das Besorgen des Auswurfmaterials der Narrenzunft und die Narrhalla trat geschlossen in die Narrenzunft ein. Die Ära der karnevalistischen Umzüge in Rottweil endete dann 1910. Der letzte Umzug stand unter der Schirmherrschaft von Stadtschultheiß Glückher. Das Thema „Besuch Rottweils durch Rudolf von Habsburg und seiner Gemahlin Elisabeth von Burgund zum Weihnachtsfest 1286“ war die Idee von Rechtsanwalt Ritter. Fortan beteiligte sich die Narrhalla an der Fasnet mit der Pflege und Durchführung der bei der Bevölkerung beliebten Scherzabende. Was sie auch heute noch tut.

 

Während des 1. Weltkrieges gab es keinerlei Fastnachtsaktivitäten. Auch nach Ende des 1. Weltkrieges blieb die Fasnet durch das Stuttgarter Innenministerium verboten. Trotz des Verbots kam es 1919 in Rottweil zu einem kleinen Narrensprung mit rund 15 Narren. Auch ein Jahr später ließen sich Rottweils Narren nicht von der Fasnetssperre beeindrucken, selbst wenn es dafür Opfer zu bringen galt. Dies bekamen in diesem Fall die Musiker der Stadtkapelle zu spüren. Für ihre Beteiligung am Narrensprung im Jahre 1920 hatten sie eine Strafe von 80 Mark, was damals ein kleines Vermögen darstellte, zu zahlen. Außerdem fand der Narrensprung unter Aufsicht der Polizei und der Landjäger statt. Während also die Straßenfastnacht mit ministerialen Einschränkungen zu kämpfen hatte, wurde 1920 ein Scherzabend der Narrhalla erlaubt. Die Narrhalla veranstaltete wieder einen großen humoristischen Abend mit Maskenball. Die Bürger waren froh, wieder lustig sein zu können, so dass nach allem Leid die Freude überwog. Entsprechend war der Andrang. Alle Plätze, selbst die Fensterbänke wurden zu Sitzplätzen.

 

1921 verbot dann das Stuttgarter Innenministerium die Rottweiler Fastnacht erneut. Wieder einmal also kämpften die Rottweiler um den Fortbestand ihres so geliebten Brauchtums. 1922 allerdings erwirkte die Rottweiler Narrenzunft eine offizielle Ausnahmegenehmigung. Rottweil durfte seine Fastnacht feiern.

 

Um sich gegen die behördliche Willkür in Sachen Fasnet zu wappnen, kam bei den Brauchtumsvertretern in zahlreichen alten Narrenstädten die Idee auf, sich gemeinsam zu organisieren. Am 16.11.1924 wurde daher in Villingen der „Gauverband Badischer und Württemberger Narrenzünfte“ gegründet, der sich 1930 in die „Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte (VSAN)“ umbenannte. Diesem trat dann auch die Narrenzunft Rottweil bei.

 

Aufgrund des 2. Weltkrieges wurde 1939 der letzte Scherzabend abgehalten. Die Karten waren schon einige Tag vor der Veranstaltung vergriffen. Auch die von der Narrenzunft organisierte Straßenfasnet fand 1939 zum vorerst letzten Mal statt.

 

Auf Bitten von 436 Rottweiler Bürgern, die den französischen Besatzern eine Petition zustellten, erteilten diese 1947 die Genehmigung für die erste Nachkriegsfastnacht. Als Veranstalter bat die am 3. März 1946 wieder aktive Narrenzunft um rege Teilnahme. Dieser Aufforderung folgten etwa 300 Narren. Angetan von diesem Erfolg beschloss die Narrhalla, ihre Aktivitäten ebenfalls wieder aufzunehmen. Im Wohnzimmer von Friseur Gustav Kramer traf sich 1948 eine kleine Gruppe von Narrhallesen, um die Narrhalla neu zu gründen. Bäcker Theodor Gugel erklärte sich bereit, die Sache in die Hand zu nehmen. Schon im Dezember 1948 erteilte die französische Besatzungsmacht die Genehmigung und so konnte am 11. Januar 1949 im Gasthaus „Marder“ auch die Narrhalla wiedergegründet werden. Bäckermeister Hermann Widmer übernahm den Oberelfer, allerdings gelang es nicht bereits schon 1949, einen Scherzabend zu organisieren. Rottweils Bürgerschaft musste sich noch ein Jahr gedulden.

 

Getreu dem Motto „Heut wie vor altem, so wird’s gehalten…“ bemühen sich seither beide Vereine um den Erhalt der Rottweiler Fasnet. So können die Narrhalla und die Narrenzunft auf eine bewegte gemeinsame Geschichte zurückblicken. Jeder der beiden Vereine hat seine Aufgabe zur Bewahrung und Pflege unserer Fasnet. Es ist ein Miteinander. Pflegen die Einen die Tradition der Bälle und Scherzabende, übernehmen die Anderen die Organisation der Straßenfasnet. Beides ist aus Rottweil heute nicht mehr wegzudenken. Spät aber nicht zu spät wurde die Vision des ehemaligen Stadtoberhaupts Glückher, Rottweil – Narrenstadt, also doch noch Realität. Damit dies so bleibt, mögen beide Vereine stets wachsen und gedeihen, zum Wohle und Erhalt unsrer geliebten Fasnet.

 

Das walte Gott!

 

Bei weiterem Interesse können Kleinschriften über die Narrenzunft und der Narrhalla in der Buchhandlung Klein in Rottweil erworben werden.

 

 

Text: Stephan Drobny und Frank Huber

Bilder: Archiv Narrhalla und Uli Hezinger.